A Whitsun Performance For Carillon And Electronics By Maximilian Marcoll


Ausgangspunkt

Die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Kulturen und Religionen in Europa ist derzeit von fremdenfeindlichen Tendenzen und aggressiven Handlungen überschattet und bedroht. In dieser Situation entspricht es meinem Selbstverständnis als Künstler und Mitglied unserer Gesellschaft, entschieden Position zu beziehen. Aus dieser Motivation heraus wurde "Adhan" geschrieben.

Im Sommer 2014 wurde ich beauftragt, ein Stück für den Glockenturm (Carillon) im Berliner Tiergarten zu schreiben. Zwei Konzerte waren geplant, für Pfingstsonntag und Pfingstmontag 2015, die neben dem von mir komponierten Stück auch zwei ältere Stücke anderer Komponisten präsentieren sollten.

Aufgrund der äusseren Rahmenbedingungen, nämlich des Instruments mit seiner durch die Glocken und den Turm mit der Kirche verbundenen Symbolik, und dem Datum, nämlich Pfingsten, war eine Beschäftigung mit dem religiösen Kontext unausweichlich. Sehr schnell zeichnete sich die kontextuelle Relevanz meines Projektes ab. Ich lebe in Berlin-Neukölln, umgeben von Menschen mit verschiedensten religiösen und kulturellen Hintergründen. Die Frage nach der Offenheit der zentraleuropäischen Gesellschaften wurde in den letzten Jahren immer brisanter. Vor diesem Hintergrund bekam der Kompositionsauftrag ein grösseres Potential.

Das entstandene Stück "Adhan" (= arab. "Gebetsruf") besteht aus einem islamischen Gebetsruf, einer Doppelung desselben durch die Glocken des Carillons und einer Einspielung des traditionellen jüdischen Blasinstruments "Shofar". Die Aufnahme des Muezzins wurde transkribiert und für das Carillon gesetzt. Die Glocken spielen synchron den Gesang mit, der mit dem Shofar kombiniert aus einem oben auf dem Glockenturm positionierten Lautsprecher erklingt. Das Ergebnis ist das Verweben der drei grossen monotheistischen Weltreligionen in einer einzigen musikalischen Geste: Der Ruf eines Muezzins, gedoppelt von einem christlichen Glockenturm, unterstützt durch den jüdischen Shofar, an einem jüdisch-christlichen Feiertag.

Aus Angst vor islamistisch motivierten Angriffen wurde das Stück durch den Veranstalter und Carilloneur Jeffrey Bossin vom Programm genommen. Öffentliche Reaktionen bewirkten zwar die vorübergehende Rücknahme der Programmänderung. Kurz darauf wurden die Konzerte jedoch ersatzlos, angeblich wegen Krankheit, abgesagt.

Projekt 2017

Es gibt über ganz Europa verteilt mehrere hundert Carillons, von denen eine repräsentative Anzahl zu Aufführungen des Stücks an Pfingsten 2017 eingeladen werden sollte. Dazu wurden ab Mai 2016 ca 350 Kontaktpersonen, Institutionen, Verwaltungen etc in 18 europäischen Ländern angeschrieben. Tatsächlich gab es zunächst einige Zusagen von Carillons über ganz Europa verteilt. Teilgenommen hat aber letzlich kein einziges. Die ängste scheinen zu gross zu sein.

"ADHAN"

Jedes Instrument hat seine Geschichte: Die Geschichte seiner Entstehung, seiner Entwicklung und seines Gebrauchs. Wann immer ein Instrument erklingt, schwingt seine Geschichte zwangsläufig mit. Die Geschichte des Carillons ist eng verbunden mit der Kirche. Obwohl es eine weltliche Tradition des Carillons gibt, die vor allem in den Beneluxländern gepflegt wird, (mehr als die Hälfte der europäischen Carillons stehen in den Beneluxländern) bringt man Glocken automatisch mit der Tradition der Kirche und der christlichen Gesellschaft in Verbindung. So war – und ist – der Glockenturm seit Jahrhunderten der Taktgeber und das schon von weitem sichtbare Erkennungszeichen der Kirche. Wenn es in der jüdischen Tradition ein äquivalent zu Glocken und dem Muezzin gibt, dann ist es der Shofar, ein aus einem Widderhorn hergestelltes Blasinstrument. Es wird traditionell zum Neujahrsfest und zu wenigen weiteren jüdischen Feiertagen geblasen. Die Geschichte der in einem Stück verwendeten Musikinstrumente ist nicht die einzige zusätzliche Bedeutungsebene, die dem jeweiligen Werk eingeschrieben ist. Die Bedingungen und Umstände der Aufführung können eine ebenso wichtige Rolle spielen. Zum Beispiel kann das Datum eines Konzertes eine ausschlaggebende Bedeutung tragen, die den Kontext des Stückes signifikant verändert. Zum Beispiel wird eine Musik unterschiedlich kontextualisiert, wenn man sie an Weihnachten oder am 9.November aufführt. Das christliche Pfingstfest liegt im Kalender nah am jüdischen Shavuot und fällt hin und wieder mit diesem zusammen. Shavuot feiert unter anderem die Offenbarung der Torah. Tatsächlich, so wird in der Bibel berichtet, feierten die Apostel gerade dieses Fest, als der Heilige Geist in sie fuhr und sie befähigte, in allen Sprachen zu sprechen, die damals in Jerusalem vertreten waren. Das daraus entstandene Pfingstfest wurde einem bereits bestehenden jüdischen Feiertag also quasi aufmoduliert und markiert einerseits die "Geburt der Kirche", andererseits aber auch ein Gegenbild zu Babel: Die Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen.

Setup

Das Setup für ADHAN besteht aus einem Carillon und drei Lautsprechern. Einer davon soll im Carillon platziert werden, die beiden anderen bilden ein Stereo-Paar. Falls sich das Carillon in einem Turm befindet bleibt das Stereo-Paar auf dem Boden.

Form

ADHAN hat eine Dauer von 8'30". Es ist in 19 kurze Abschnitte unterteilt, von denen 18 aus einer Zeile des Gesangs des Muezzins bestehen, jeweils gefolgt von einigen Sekunden Pause. In jedem der Verse spielt das Carillon die selben Noten, die der Muezzin auf der Aufnahme singt. Zusätzlich dazu erklingt ein langer Ton des Shofar, für die Dauer des jeweiligen Verses. Der letzte Abschnitt des Stücks enthält weder Gesang, noch Shofar und auch die Glocken des Carillons bleiben stumm, stattdessen erklingt eine andere Aufnahme, die im nächsten Kapitel beschrieben wird.

Ebenen

Der Gesang und der Shofar klingen aus dem Lautsprecher im Carillon. Den beiden Stereo-Lautsprechern kommt eine andere Rolle zu: Nach jedem Vers werden die Resonanzen der Glocken durch Sinustöne verdoppelt und verlängert, die dadurch einen Akkord aus den vorangegangenen Tonhöhen werden lassen. Manche der vom Muezzin gesungenen Töne sind nicht Teil der wohl-temperierten Stimmung. Diese Töne werden zusätzlich von Glocken-Aufnahmen gedoppelt, die exakt auf die gesungene Tonhöhe gestimmt sind. Eine weitere Ebene besteht aus der Aufnahme einer Umgebung, die der Umgebung des jeweiligen Carillons möglichst nahe kommt. Diese Aufnahme fadet langsam ein, unhörbar zu Beginn, aber stetig ansteigend bis zu einem stark hörbaren Level, über die Dauer von mehreren Minuten. Diese Aufnahme bilet, gemeinsam mit einem verdichteten Klang aus Glockenresonanzen, den letzten Teil des Stücks. Kurz vor Ende bricht die Situation um, in ein Rauschen von recht technischer Natur - aber nur für wenige Sekunden, bevor auch dieser Klang abbricht und die Umgebung subjektiv leiser zurück lässt als sie es zu Anfang des Stückes war.